Wir befinden uns an einer zentralen Weggabelung in der Covid-19-Pandemie. Nach der ersten Phase explodierender Erkrankungszahlen besteht nun die realistische Chance, schrittweise in eine Phase der Pandemieabwehr zurückzukehren, die es wieder erlaubt, die Verbreitung hauptsächlich durch Fallisolation und Kontaktmanagement zu kontrollieren. Eine zentrale Rolle in diesem langfristig angelegten System soll einer vom Bundesamt für Gesundheit herausgegebenen, freiwilligen, Smartphone-basierten Contact-Tracing-App zukommen.
Hohe Partizipation nötig
Hier ist anzumerken, dass ein Obligatorium auf Basis des Epidemiengesetzes grundsätzlich möglich wäre. Eine Voraussetzung für die Effektivität einer freiwilligen Contact-Tracing-App ist jedoch eine sehr hohe Partizipation. Neue Studien schätzen den Anteil der App-Nutzer in der Bevölkerung, der notwendig ist, um die Verbreitung der Pandemie zu stoppen, auf über 60 Prozent. Das grundsätzliche soziale Dilemma: Hier steht der individuelle Nutzen im Konflikt mit dem gesellschaftlichen Nutzen. Es entsteht ein grosser gesellschaftlicher Nutzen, wenn alle die App verwenden, aber Einzelne erfahren keinen direkten Nutzen durch eine Beteiligung. Ist die wahrgenommene und/oder effektive Beteiligung insgesamt zu gering, kommt das System nicht zum Laufen, und kaum jemand beteiligt sich. Der Anreiz zur Nichtbeteiligung rührt zum einen daher, dass dem Einzelnen Kosten bei der Nutzung entstehen.
Diese Kosten bestehen bei der geplanten App des Bundesamts für Gesundheit beispielsweise aus der Weitergabe von Daten. Möglicherweise sind es aber sogar banale Effekte wie kürzere Akkulaufzeiten von Smartphones, die aus der permanent aktivierten Bluetooth-Schnittstelle resultieren, welche im Alltag hohe implizite Kosten verursachen. Zum anderen wird der Anreiz zur Nichtbeteiligung des Einzelnen dadurch verstärkt, dass jeder vom gesellschaftlichen Nutzen auch dann profitieren kann, wenn die App selbst nicht genutzt wird, viele andere dies aber tun (Freerider-Problem). Sofern in dieser Situation nicht davon ausgegangen werden kann, dass es eine extrem hohe Bereitschaft zu altruistischem (selbstlosem) Verhalten gibt, müssen wir mit geringer Partizipation rechnen.
Dass ein derartiges Dilemma nicht lediglich ein akademisches Konstrukt darstellt, zeigen in dem konkreten Fall einer Contact-Tracing-App die Partizipation in Singapur (25 Prozent) und Island (40 Prozent). Der Fall von Island zeigt auch, dass derart geringe Beteiligungsraten nicht effektiv zur Eindämmung der Pandemie beitragen. Wichtige Voraussetzungen, welche Einzelne dazu bewegen, zu sogenannten öffentlichen Gütern wie einer Contact-Tracing-App beizutragen – sprich: diese zu nutzen –, sind einerseits die Wahrnehmung, dass sie Teil einer grossen Mehrheit in der Bevölkerung sind, welche einen Beitrag leistet, und andererseits das Bestehen von Bestrafungsmechanismen für Einzelne, die nicht dazu beitragen. Beide Voraussetzungen sind aufgrund der geringen initialen Beteiligung, welche wir in anderen Ländern sehen, und der derzeit geplanten freiwilligen Ausgestaltung der App in der Schweiz nicht zu erwarten.
Gleiches gilt für ein zentrales Argument für die App: Es gibt keinen Anreiz zur Weitergabe eines positiven Covid-19-Testergebnisses an die App und somit an alle Personen, die nahen Kontakt hatten und damit eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit aufweisen.
Finanzieller Ausgleich für die App-Nutzung
Es braucht also andere Anreizmechanismen, die einen hohen Nutzungsgrad in der Bevölkerung erreichen können. Hier wäre ein Ansatz denkbar, bei dem Einzelne für ihren Beitrag zum öffentlichen Gut – also für die Nutzung einer Contact-Tracing-App und die Bereitstellung von Daten – finanziell entschädigt würden. Ähnlich, wie dies mit der Incentivierung zur Nutzung von Fitnesstrackern in der Krankenversicherung bereits versucht wird, wäre ein möglicher Mechanismus eine Bonuszahlung in der obligatorischen Krankenversicherung – im Moment liegen derartige Fitnesstracker-Boni bei etwa 140 Franken pro Jahr. Dieser Mechanismus würde zudem die zu erwartende Risikoreduktion im Kollektiv und somit die Reduktion der Gesundheitskosten, von der die obligatorische Krankenversicherung wiederum profitiert, ertragsgerecht verteilen.
Wichtige rechtliche Fragestellungen in diesem Kontext wurden bereits im vergangenen Jahr im Fall des Bonusprogramms Helsana+ geklärt. Das Bundesverwaltungsgericht hat hier bestätigt, dass Boni in Form von Barauszahlungen, Sachleistungen oder Gutscheinen in der Grundversicherung mit dem Krankenversicherungsgesetz vereinbar sind. Bei der finanziellen Kompensation für eine App-Nutzung von Krankenversicherten handelt es sich um eine Investition in die Prävention, welche der gesamten Bevölkerung und somit auch allen Krankenversicherern über eine Reduktion der Gesundheitskosten zugutekommt.
Es wäre daher möglich, einen finanziellen Ausgleich zwischen den Krankenversicherern, vergleichbar mit dem Risikoausgleich, zu organisieren. Dies hätte den Nebeneffekt, dass Krankenversicherer einen Anreiz hätten, auch aktiv auf ihre Kunden zuzugehen, um die Partizipation weiter zu erhöhen.